In Papua-Neuguinea macht sich 40 Jahre nach der Unabhängigkeit Ernüchterung breit. Kann der Weg zwischen Tradition und Moderne noch gefunden werden? Daniel Rössler hat sich auf die Suche gemacht
„Hier geht es nicht weiter!“ Samson schüttelt den Kopf, er ist sich sicher. Die Strasse, an der er sitzt und Tabakblätter verkauft, führt nicht weit. Ins Hochland kommt man darauf nicht, und an die Nordküste auch nicht. Aus Port Mortesby führt kein Weg, die Hauptstadt Papua-Neuguineas ist nicht verbunden mit dem Rest des Landes. „Wir sitzen in einer Sackgasse“ sagt Samson, und er meint das ganze Land damit. Vier Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit wird im pazifischen Inselstaat immer noch nach dem Weg in eine bessere Zukunft gesucht.
Der ist nicht leicht zu finden in einem Land, das zu den unwegsamsten, kulturell diversesten und ärmsten Orten dieser Erde zählt. Wie eine Nation regieren, in der über 800 verschiedene Sprachen gesprochen werden, wie ein Volk einen, in dem sich sieben Millionen Menschen über schwer zugängliches und kaum erschlossenes Gebirgs- und Inselterrain verstreuen? Schon die ehemaligen Kolonialmächte sind an diesen Fragen gescheitert, erst die Deutschen und die Briten, später die Australier. Als 1975 die Unabhängigkeit ausgerufen wurde – überhastet, aber ohne Gewalt –, da sah es so aus, als wüsste man in der neuen Nation um die Antworten. Von einem „PNG Way“ war die Rede, von einem papua-neuguineischen Entwicklungsweg, der fernab der ausgetretenen Pfade der restlichen Dritten Welt verlaufen und eine Alternative zum kapitalistischen Paradigma darstellen sollte. Heute fragen sich die Menschen, wo das Land falsch abgebogen ist.
Am Ende gibt es Dosenfisch
„Das Leben wird immer schwieriger“ sagt Kerri und zieht sein Boot aus dem Wasser. Es ist schon fast dunkel auf der Insel Krangket, aber den erschöpften Ausdruck im Gesicht des Fischers sieht man noch. Das Wetter war nicht gut heute, das Meer unruhig, der Fang bescheiden. Während Kerri im fahlen Dämmerlicht seine Thunfische zählt, flackern in der Ferne die ersten Lichter von Madang. Eine halbe Bootsstunde ist die Stadt entfernt, und Kerris Frau wird dort morgen vor einer blauen Kühlbox sitzen und seinen Fisch verkaufen. „Für fünf Kina pro Stück“ rechnet Kerri vor, und damit kann sie dann Medizin kaufen, Batterien und Dosenfisch. Dosenfisch? Den mögen seine Kinder am liebsten, weil er keine Gräten hat und nie schlecht wird. Er lächelt, weiß wohl, dass sich die Lieferkette hier irgendwo verheddert hat: Thunfisch aus dem Meer zu fangen, um Thunfisch aus der Dose zu bekommen, das scheint kein guter Deal zu sein. Aber eine Möglichkeit, um an der Moderne teilzunehmen, und das will Kerri. „Ich arbeite wie meine Vorfahren“ sagt er, „aber leben möchte ich anders.“ Es ist finster geworden auf Krangket, und von der Moderne kann man weit und breit nichts sehen. Es gibt keinen Strom auf der Insel, schon seit Jahren nicht mehr. Irgendwann ist die Leitung zum Festland gerissen, und bis heute hat sie niemand repariert. Kerri sitzt im Dunkeln und klopft auf seine Taschenlampe. Die Batterien sind aus China und schon wieder leer, es bleibt finster heute Nacht.
Fernbeziehung
In Papua-Neuguinea werden Abend für Abend Batterien getauscht, denn der Staat erbringt seine Leistung nicht: Nur 15 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu Elektrizität, 40 Prozent zu sauberem Wasser, 10 Prozent zu Kommunikationsnetzwerken. Das Leben des 21. Jahrhunderts lebt sich nicht leicht abseits der Städte, und dort – in den Dörfern der Berge, Täler und Inseln – leben immer noch über 80 Prozent aller Papua-Neuguiner. Der Staat und die Menschen, sie sind weit entfernt voneinander: Getrennt nicht nur durch Regenwald, Gebirge und Meer, sondern durch tiefes Misstrauen. Immer wieder wurden Versprechungen gebrochen und Erwartungen enttäuscht, zu oft schmutzige Geschäfte ans Licht und Politiker wegen Korruption ins Gefängnis gebracht. Für Transparency International zählt das Land zu den korruptesten Staaten der Welt, für die Weltbank ist es fragil. Schwerlich lässt sich der Ressourcenreichtum des Landes so in allgemeinen Wohlstand übersetzen, und die Großvorhaben der extraktiven Industrie – wie etwa die Ok Tedi-Mine im Hochland oder die Panguna-Mine auf der Insel Baugainville – haben Umweltschäden und tödliche Konflikte, nicht aber die versprochenen Entwicklungsschübe mit sich gebracht. Auf dem Human Development Index ist das Land auf Platz 158 zurückgefallen, vielen Menschen geht es schlechter als vor zehn Jahren.
Reiche Armut
Dabei ist das Land nicht arm. Am Gemüsemarkt von Goroka kann man seinen Reichtum sehen, riechen, schmecken. Die Stadt im östlichen Hochland zieht Bauern aus der ganzen Region an, und sie kommen mit vollen Säcken. Weil das Klima auf 1600 Metern gut, der Boden fruchtbar und der Regen reichlich ist, gibt es hier alles, was die Natur sich an Obst- und Gemüsevariationen ausgedacht hat. „Und die besten Ananas des Landes“ ruft Tabitha, eine kräftige Marktfrau, und verkauft damit das letzte Stück. Ein langer Heimweg erwartet sie jetzt, erst auf der Ladefläche eines Lastwagens, dann auf einem verschlungenen Pfad durch den Regenwald. Natur und Politik legen den Menschen Strapazen auf, verlangen viel ab von Produzenten, die zu Märkten, von Kranken, die in Krankenhäuser, von Schülern, die in Schulen wollen. Tabitha seufzt, aber aufregen will sie sich heute nicht mehr darüber. Der Fahrer hat schon dreimal gehupt, sie muss los. Mit aufheulendem Motor setzt sich der LKW in Bewegung, langsam und ächzend schiebt er sich über die löchrige Strasse stadtauswärts. Tabitha winkt und hält sich an der Plane fest. Es wird ein langer Weg.
Spätestens im Jahr 2050 will Papua-Neuguinea angekommen sein. Dann soll der Staat zu den 50 entwickeltsten Länder der Erde zählen, soll „smart, gerecht, klug, gesund und wohlhabend“ sein. So wurde es in der „Vision 2050“ festgeschrieben, von der Regierung in Port Moresby. Dort sitzt Samson immer noch am Wegrand und verkauft Tabakblätter. Und hofft darauf, dass seine Strasse irgendwann keine Sackgasse mehr sein wird.