Reisen mit Geist und Verstand (Wiener Zeitung, September 2017)

Wir reisen immer mehr, aber reisen wir richtig? Lehren aus der Apodemik, der Wissenschaft des Reisens

Das Tor zur Welt, es öffnete sich mir an einem Schalter der Österreichischen Bundesbahnen. In einer grauen Wartehalle schob mir ein grauer Beamter ein graues Billett zu, und als ich es in meinen Händen hielt, war die Erde mit einem Male bunt. Ich roch italienischen Kaffee und niederländisches Gras, hörte spanischen Flamenco und die Glocken des Vatikans, spürte das Salz des Mittelmeers auf meiner Zunge und seine Brise auf meiner Haut. Ich war achtzehn Jahre alt und fühlte zum ersten Mal die Nahbarkeit der Erde. Vor mir befand sich kein ÖBB-Schalter mehr, sondern der Eingang zur Welt. Das Interrail-Ticket war meine Eintrittskarte. Aber hätte mir nicht irgendjemand auch so etwas wie eine Anleitung in die Hand drücken können?

Ars apodemica

Das Reisen ist eine Kunst. Beherrscht wird sie nur von wenigen, und obwohl wir heute weiter, schneller und öfter reisen als jede Generation vor uns, werden wir nicht in ihr geschult. Das war einmal anders. Es gab eine Zeit, in der das Unterwegssein keinen Vergnügungs-, sondern einen Bildungsauftrag besaß. In der junge Menschen als Teil ihrer Erziehung in die weite Welt geschickt wurden. In der das Reisen eine Wissenschaft war. „Reisen will gelernt sein“ hat Francis Bacon gegen Ende des 16. Jahrhunderts gesagt, und damit eine Bedingung formuliert, die sich über Jahrhunderte hinweg und für Generationen von Reisenden als praktischer Anspruch erhalten sollte. Nicht zum Spaß fuhr man durch die Welt, sondern um diese Welt entdecken, verstehen, beschreiben zu können. Es war die Zeit der Renaissance, des Forschungsdrangs, der geistigen Befreiung aus dem starren, kirchlichen Gedankenkorsett des Mittelalters, und jede Reise versprach neue Erkenntnis. Vorausgesetzt, man unternahm sie richtig. Mit Vorbereitung, System, Methode – und mit einer gewissen Kunstfertigkeit. Das Reisen wurde als eine Tätigkeit begriffen, die auf Wissen, Übung und Fertigkeiten beruht, und all dies musste erlernt und diszipliniert angewendet werden. Das Reisen war eine Kunst, und ihre Wissenschaft war die Apodemik. Die Ars apodemica – abgeleitet vom griechischen „apodhmeo“ („auf Reisen sein“) – blühte vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, und sie  umfasste ein breites Programm: Die Wissenschaft, Kunst und Theorie des Reisens zum einen, die praktische Reiseinstruktion und literarische Gattung zum anderen. Das Unterwegssein wurde auf ein akademisches Niveau gehoben, die Bewegung von A nach B methodisiert. Das eigentliche Ziel war nicht mehr, B zu erreichen, sondern am Weg dorthin zu lernen, Erfahrungen zu machen und Erkenntnisse zu gewinnen. Alles, was dafür zu tun war, wurde den Reisenden in Apodemiken vermittelt. Diese theoretischen Reiseanleitungen wurden ihnen vor Abreise in die Hand gedrückt, und sie erklärten detailliert, wie die Reise zu organisieren, wie zu beobachten, wie zu beschreiben war. Es waren Instruktionen für das gute Reisen, und sie leuchteten Generationen von Entdeckern den Weg durch die Fremde aus.

Irrwege

Mir hat damals niemand irgendetwas ausgeleuchtet, der ÖBB-Beamte gab mir nicht mal einen Fahrplan mit. Aber es war mir egal: Ich hatte ein Ticket, zwei Freunde und vier Wochen Zeit. Bei der Abreise hatte ich außerdem noch vierundzwanzig Dosen Bier, wer brauchte da schon eine Apodemik? Der Zug rollte los, wir stießen an, die Länder Europas warteten auf uns. Nach dem dritten Bier hatten wir die erste Grenze überquert. Nach dem fünften Bier fühlte ich mich wie Leonardo DiCaprio am Bug der Titanic. Statt mit einem Schiff durch den Atlantik fuhr ich mit der Deutschen Bahn durch Niederbayern, aber ich war trotzdem der König der Welt. Nach dem sechsten Bier wurde ich plötzlich sehr müde. Als ich wieder aufwachte, war ich in Holland. Der Erkenntnisgewinn in dieser frühen Phase der Reise hielt sich in engen Grenzen, aber ich nahm mir vor, ab sofort klaren Auges und nüchternen Verstandes durch die Welt zu ziehen. Wir erreichten Amsterdam, und die Reise nahm ihren natürlichen Verlauf. Francis Bacon hätte keine Freude mit mir gehabt.

 

Grand Tour

Hätte dieser Euro-Trip ein paar Jahrhunderte früher stattgefunden, dann wäre er gesitteter und zielgerichteter verlaufen, und er hätte den klingenden Namen „Grand Tour“ getragen. So bezeichnete man ab dem 16. Jahrhundert jene Reise, die junge Männer als Teil ihrer Erziehung und zum Ende ihrer Ausbildung unternehmen mussten, und die ihnen den „letzten Schliff“ verleihen sollte. Für Monate, manchmal Jahre, verließen die Teens und Twentiesomethings ihre adeligen und bürgerlichen Elternhäuser, um in der Fremde Reife und Veredelung zu erlangen. Die große Tour war eine biographische Notwendigkeit, ein Muss im Lebenslauf, eine Voraussetzung, um später leitende Funktionen in Politik und Administration einnehmen zu können. Es waren Studienreisen, die den Horizont erweitern und das Wissen erhöhen sollten, den jungen Flaneuren aber gleichzeitig auch Abenteuer und lange Nächte verhießen. Aus den Reiseberichten jener Zeit ist zu erkennen, dass auf einer Grand Tour nicht nur der Wissenschaft, sondern durchaus auch dem Wein, der Musik und dem anderen Geschlecht gefrönt wurde, und dem Veredelungsgrad hat vermutlich nichts davon geschadet. Dass sich die Ausschweifungen zumeist in Grenzen und einem pädagogisch wertvollen Rahmen hielten, hatte nicht zuletzt mit den Apodemiken zu tun. Sie lieferten die Anleitung für das richtige, nutzbringende Reisen, und zugleich einen Leitfaden für das rechte Beobachten und fachgemäße Berichten. Für Bacon war genau das der Hauptzweck einer jeden Tour: „Die sinnvoll Reisenden sind Berichterstattende“ notierte er in seinem 1597 erscheinenen Essay „Über das Reisen“, und verlieh dem Reisebericht dadurch nachhaltige Bedeutung. Also führten die jungen Männer auf ihrer Grand Tour Tagebuch, machten Aufzeichnungen, schrieben Briefe – und schufen, indem sie ihre Beobachtungen in der Fremde schriftlich festhielten, dadurch gleichsam neue Apodemiken. Es war Perpetuum Mobile des kulturellen Lernens, und es hätte sich ewig weitergedreht, wäre ihm nicht mein Zug in die Quere gekommen.

Touristische Demokratisierung

Vier Wochen in belgischen, französischen, spanischen, portugiesischen Zügen haben mich weiter durch Europa geführt, als eine jahrelange Grand Tour dazu in der Lage gewesen wäre. Ich habe morgens Espresso in Rom und abends Wein in Paris getrunken, und ich brauchte nicht mal eine Kutsche dafür. Für lange Zeit war das Reisen einer reichen Oberschicht vorenthalten, mit der Erfindung von Eisenbahn, Dampfschiff und Flugzeug aber hat es sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts demokratisiert. Plötzlich tat sich auch für die breite Bevölkerung die Tür zur Fremde auf, und immer größere Massen drängten sich durch sie hindurch. Das Unterwegssein veränderte seinen Charakter, wurde breitentauglich, niederschwelliger, einfacher. Dass das Reisen ursprünglich mit Arbeit verbunden war – das englische Wort „travel“ ist dem französischen „travail“ verwandt, der Begriff „Tourismus“ betont die Tour – wurde nach und nach vergessen. Plötzlich machte man „Ferien“ und „Urlaub“, und die Reise wurde damit von jeder Form der Anstrengung und jedem Bezug zur Fortbewegung losgelöst. Der aufstrebende Massentourismus versprach Unterhaltung, Regeneration und gebräunte Haut, für körperliche und geistige Mühen war darin kein Platz: Sonnenbrand statt Erkenntnisgewinn, Komfort statt Strapaz, Animation statt Apodemik. Die Wissenschaft des Reisens hatte sich überflüssig gemacht, nach einer Kunst des Reisens stand niemandem mehr der Sinn. Heute ist sowohl der Begriff, als auch die Literaturgattung unbekannt – die Apodemik gibt es nicht mehr. Dabei würde sie dringend benötigt.

Apodemik revisited

Denn wir reisen soviel, wie nie zuvor. Wir fliegen für ein Meeting nach Tokio, für einen Einkaufsbummel nach London, für eine Alkoholvergiftung nach Mallorca, und zum Abendessen sind wir wieder daheim. Wir legen während eines einzigen Interkontinentalflug-Snacks mehr Kilometer zurück, als frühere Reisende während entbehrungsreicher Wochen auf hoher See, und danach beschweren wir uns noch darüber, dass es im Hühnchen-Sandwich eine Spur zu zu viel Thymian und im Filmangebot zu wenig deutschsprachige Komödien gab. Wir sind bequem geworden. Wir wähnen uns in einem globalen Dorf, und wir glauben alle Nachbarn zu kennen. Wir besuchen sie mit einer Selbstverständlichkeit, mit der man schnell mal Salz holen geht, und niemand hält uns an, niemand hilft uns dabei, uns gewissenhafter vorzubereiten. In der Schule wird uns beigebracht, wie man Regressionen berechnet und Goethe interpretiert, aber wie interpretiert man eigentlich das Nicken eines indischen Rikschafahrers? Die Ratgeberliteratur verhilft uns „In fünf Minuten zu innerem Gleichgewicht“ und einem „Darm mit Charme“, aber wie findet man in einer brasilianischen Favela den Weg zur Toilette? Im Fernsehen zeigt man uns Survivalshows, aber was ist mit dem Hunger, der Armut, dem echten Überlebenskampf der einen Milliarde von Menschen, die nicht eine freiwillige Nacht, sondern ein ganzes Leben unter widrigen Umständen verbringen muss? Just in Zeiten größter touristischer Aktivität hat sich seine pädagogische Begleitung auf ein Minimum reduziert. Es gibt kein akademisches Programm mehr dafür, und so bleibt uns wohl nichts anderes über, als selber zu forschen. Hinauszuziehen in die Ferne, hineinzuspringen in das Fremde, einzutauchen in die Welt und sie mit Interesse und Respekt Stück für Stück verstehen zu lernen. Das Tor zu dieser Welt, es tat sich mir vor fünfzehn Jahren in der grauen Wartehalle eines Provinzbahnhofs auf. Ich bin hindurchgegangen und nie wieder zurück gekommen. Als Tourist sprang ich in den ersten Zug, als Reisender stieg ich vier Wochen später aus dem letzten wieder aus. Meine Kleidung war schmutzig, meine Brieftasche war leer, mein Herz war voll von Europa und der Sehnsucht nach der Welt. Ich musste sie sehen, und ich musste lernen, wie das geht. Die Apodemik gibt es nicht mehr. Aber das Reisen ist immer noch eine Wissenschaft für sich.

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