Alles im Fluss (Der STANDARD, September 2017)

Alles im Fluss

Der Sepik ist der mächtigste Fluss Papua-Neuguineas, und im Einbaumkanu lässt er sich in aller Ruhe bereisen. Eine Expedition in das Innere eines faszinierendes Landes.

Man kann nicht zweimal in den selben Fluss steigen. Zweimal von einem Krokodil gefressen werden, das geht auch nicht. Und aus wie vielen Bäumen ein Einbaumkanu besteht, das braucht man an dieser Stelle auch nicht näher zu erläutern. Wer am Sepik durch den papua-neuguineischen Dschungel treibt, der fühlt sie irgendwann: Die Einmaligkeit der Dinge, die Unwiederbringlichkeit des Moments. So wie es jetzt ist, so wird es nie wieder sein. Man steht mit einem Speer in der Hand auf einem holzgeschnitzten Boot, es ist gegen Mitternacht und windig, und der Lichtkegel der Taschenlampe schwenkt unruhig über unruhiges Wasser. „Rote Augen!“ ruft Nelson. „Wenn du die roten Augen siehst, stoß zu!“ Das philosophische Problem des zweimaligen Einstiegs ist allen Flüssen eigen. Wenn man aber sechs Tage in einem Einbaumkanu auf dem Sepik unterwegs ist, dann ahnt man: Hier wird’s auch mit dem Ausstieg schwierig. Als derselbe kommt man wahrscheinlich nicht mehr wieder raus.

Einzigartige Natur- und Kulturlandschaft

Der Sepik ist der längste Fluss Papua-Neuguineas. Auf 1100 Kilometern mäandert er durch den Nordosten das unwegsamen Landes, schlängelt sich an Gebirgen, tropischem Regenwald und ausgedehnten Sümpfen vorbei in Richtung Pazifik. Zwischen der Quelle und der Mündung liegen nur 400 Kilometer Luftlinie, aber der Sepik nimmt sich Zeit und Raum, zeichnet Schlaufen in die Landschaft, setzt Ufer unter Wasser, befüllt über tausend Seen. Mit einem Einzugsgebiet von einhunderttausend Quadratkilometern gilt er als eines der mächtigsten Flusssysteme der Welt, und als das größte unbelastete Frischwasserreservoir im asiatisch-pazifischen Raum. Große Siedlungen oder Industrie gibt es nicht, Infrastruktur ist kaum vorhanden. Das Sepik-Becken gehört zu den entlegensten Gebieten der Erde, und unbeschadet von äußeren Einflüssen hat sich hier eine einzigartige Natur- und Kulturlandschaft in die Gegenwart gerettet. Bereisen lässt sie sich nur auf einem einzigen Weg – und der ist aus Wasser.

Sepik Highway  

„Wir nennen ihn Sepik Highway“ lacht Nelson, und in seiner Stimme schwingt ein bisschen Stolz mit. Wenn man von Angoram aus in Richtung des Landesinneren aufbricht, dann versteht man sofort warum: Imposant liegt der Fluss vor einem, breit ausgestreckt zwischen zwei weit entfernten Ufern, mit ruhiger Wucht eine mächtige Wassermasse vor sich herschiebend. Es führt kein Weg an ihm vorbei, von jetzt an ist er der Weg, der einzige weit und breit. Nelson spuckt seine Betelnuss aus und wirft den Motor an, langsam manövriert er das Boot in die Mitte des Stroms. Die Reise beginnt. Für einen kurzen Moment fühlt es sich tatsächlich so an, als würde man auf eine Autobahn auffahren, aber dann bleibt die Beschleunigung aus und die Schönheit setzt ein. Stelzenhäuser säumen die Ufer, Kinder spielen im Wasser, alte Männer sitzen auf Sandbänken und flicken Netze. Es geht gemächlich zu am Sepik, Ruhe liegt in Bewegungen und Gesichtern. Der Fluss macht einen ersten Bogen, dann einen zweiten und dritten, und schließlich hört man auf zu zählen. Es ist egal. Mit monotonem Knattern kämpft der Motor gegen die Strömung des Unteren Sepik, des ersten Flussabschnitts, vorbei an seinen ausgedehnten Graslandschaften und Mooren. Auf der Wasseroberfläche spiegeln sich Wolken, manchmal die Äste eines großen Baumes, hin und wieder die Gestalten vorbeirudernder Fischer. „Männer stehen im Kanu, Frauen sitzen“ erklärt Nelson, und man lehnt sich entspannt zurück und glaubt seinen anthropologischen Bildungsauftrag für den Tag bereits erfüllt. Aber dann macht der Fluss den nächsten Bogen, und dahinter steht ein Geisterhaus.

Haus Tambaran

In Papua-Neuguinea wimmelt es von Geistern, das Meer, die Wälder, die Flüsse sind voll ihnen. Im Alltag der Menschen spielen sie allerorts eine wichtige Rolle, nirgends aber werden ihnen so prächtige Häuser gebaut wie am Sepik. In fast jedem Dorf entlang des Flusses findet sich ein „Haus Tambaran“, das Haus, in dem die Geister wohnen und das man als solches schon von Weitem erkennt: Bis zu fünfzig Meter lang und dreißig Meter hoch, meist mit verzierten Holzpfählen als Säulen und geschnitzten Geschlechtsteilen am Giebel. Auch im Dorf Kanganaman geht man unter den gespreizten Schenkeln einer Frau ins Innere – man gilt dadurch als wiedergeboren und von allem Übel befreit –, aber man trifft dort ausschließlich auf Männer. Frauen ist der Zutrtitt verboten, es scheint da ein Kompatibilitätsproblem mit den geheimen und teils verbotenen rituellen Gegenständen im Inneren zu geben. In der Mitte des verrauchten Raums steht eine große Garamut-Trommel, von der Decke baumeln Kostüme und an den Wänden hängen raffiniert geschnitzte Masken. „Mit den Schnitzereien machen wir unsere Ahnen und Geister sichtbar“ sagt ein alter Mann, dessen Augen rot sind vom dichten Qualm des Feuers und dessen Rücken übersäht ist mit kleinen Narben. Bei den Kanganaman wird nicht nur in Holz, sondern auch in den Körper geritzt. In einem schmerzhaften Initiationsritus erhalten junge Burschen hunderte Stiche in Brust und Rücken – solange, bis sie Männer sind und ihre Haut aussieht, wie die eines Krokodils. Das „Puk Puk“ ist das stärkste spirituelle Wesen des Sepik, und in Kanganaman geht es bis unter die Haut.

Ethnologisches Disneyland

Auf Nelson‘s Boot gibt es den Weg vor. Der Bug des Kanus besteht aus einem geschnitzten Krokodilkopf, und der stößt jetzt in die Wellen des Mittleren Sepik. Als „kulturelle Schatzkammer“ wird diese Gegend oft bezeichnet, und diese Zuschreibung verdient es sich nicht leicht in einem Land, dass zu den kulturell diversesten Orten der Erde zählt. Über 800 verschiedene Ethnien gibt es in Papua-Neuguinea, und zwischen seinen entlegenen Außeninseln und zerklüfteten Gebirgsketten werden ebenso viele Sprachen gesprochen und Traditionen gelebt. Es ist ein ethnologisches Disneyland, und der Sepik seine wildeste Achterbahn. Jetzt, in der Regenzeit, kann man sogar noch ein paar Runden mehr fahren als sonst, denn die Nebenflüsse führen genügend Wasser dafür. Vorausgesetzt, man kennt den Weg – oder hat Nelson im Boot, der Abkürzungen und Verbindungen dort findet, wo andere nichts sehen außer Dickicht. Immer wieder tut sich das Schilf auf, und man erblickt wundersame Orte dahinter: Die Chambri-Seen zum Beispiel, ein Kaleidoskop aus seichtem Wasser, nur wenige Meter tief, während der Trockenzeit großteils leer und unbefahrbar. Die Anthropologin Margaret Mead hat hier in den 1930er-Jahren gelebt und geforscht, und wenn man von ihrem ehemaligen Wohnort in Wombun auf die riesige Wasseroberfläche blickt, dann sieht es aus wie ein Meer. Oder die Wagu-Lagune: Aus ihrem dichten Regenwald tönt es wie aus einem riesigen, verwachsenen Subwoofer, und wer vor Tagesanbruch durch sein Inneres streift, steht dort irgendwann mit etwas Glück und offenem Mund vor dem schönen, seltenen und ausgesprochen treffend benannten Wappentier Papua-Neuguineas, dem Paradiesvogel.

Herz der Helligkeit

So vergehen die Tage. Der letzte Ort mit Straßenverbindung liegt weit zurück, und der Fluss windet sich jetzt wie eine Schlange durch das tropische Grün. Je weiter man am Oberen Sepik in das Landesinnere vordringt, desto schmäler wird der Strom, desto höher wird der Dschungel, desto seltener und zerstreuter werden die Dörfer. Es fühlt sich an wie eine Fahrt in das „Herz der Finsternis“, nur umgekehrt, alles wird heller: Das Lachen der Menschen, mit denen man abends in Bambushütten um das Feuer sitzt. Die Augen der Krokodile, die man nachts im Lichtkegel einer Taschenlampe sucht. Und der Klang der Benzintonne, die hinten am Kanu steht und an diesem letzten Morgen so gut wie leer ist. Nelson klopft mit dem Paddel dagegen, und es hört sich nach dem Ende einer Reise an. Oder nach dem Beginn einer neuen. Der Übergang ist fließend.

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